Social Media, was geht ab?

Warum wir Instagram & Co. so viel Wert beimessen und dabei unbewusst Grenzen überschreiten.

Imme

CEO von YAY

Intro

Kinder hinter Stickern ...

Ich scrolle durch den Instagram-Stream. Ich suche fotobegeisterte Eltern, die sich für ein geschütztes Familientagebuch interessieren. Bei Instagram als größter Foto-App werde ich bestimmt fündig, denn wer im Business erfolgreich sein will, muss dort aktiv sein, wo die Menschen viel Zeit verbringen, nicht wahr?

Ob Werbekampagnen, Vernetzung, Meinungsbildung oder Freundschaften, wir wollen nicht mehr ohne die Sozialen Plattformen auskommen. Für jedes Thema gibt es die richtige Bubble.

Ich scrolle mich durch Bilder von Eltern, die am Strand spazieren gehen, ihr Kind liebevoll in der Trage versteckt. Ich sehe lachende Kinder und wütende. Es laufen automatisch Videos von Babys ab, die gerade gestillt werden. Videos von Geburten. Es folgen Fotos von Kleinkindern, die gerade weinen und welchen, die nackt im Sand spielen. Wurden diese Kinder gefragt, ob sie solche Fotos von sich der Weltöffentlichkeit zeigen möchten? Und wie steht es um die Privatsphäre von Babys?

Viele Eltern-Instagrammer verstecken die Augen ihrer Kinder hinter Sternen und Herzen. Wenn sie Privatsphäre wollen, warum sind sie dann auf Instagram?

Weil keiner mehr ohne Social Media kann?

Warum messen wir so einer Plattform so viel Wert bei?

Und was macht das mit uns?

Heute nutzen wir Social Media für alles

Die brand eins erläutert 2017 anschaulich die Entwicklung der Sozialen Medien:

Wie es mit „nicht ernst genommen“ anfing und sich bis „gefährlich“ entwickelte.

Unbestritten ist, dass sie [die Sozialen Medien] eine immer größere Rolle spielen. Jeder fünfte Internetnutzer informiert sich bei Facebook, Twitter & Co. über aktuelle Nachrichten. (brand eins, 2017)

Doch bei Nachrichten hört die Nutzung längst nicht auf. Wir nutzen Social Media für alle Lebensbereiche: Um mit Tutorials zu lernen, um abzuhängen oder um wissenschaftliche Talks zu schauen, um unser Business aufzubauen oder zuzuschauen, wie andere mithilfe der Plattformen erfolgreich werden.

Für jede Geschlechts- und Altersgruppe gibt es den passenden Kanal:

Auf Instagram und Pinterest sind vor allem Frauen unterwegs, auf Snapschat und YouTube die Jüngeren und auf Twitter und Facebook (inzwischen) die etwas Älteren.

Jeder nutzt es anders. Aber alle nutzen es.

Ob Privatperson, Partei, Entrepreneur, Verein oder Zeitung. An Social Media führt (inzwischen oder immer noch???) kein Weg vorbei.

Wer Facebook & Co. geschäftlich nutzt, wird möglicherweise die Enttäuschung kennen, wenn eine online Werbe-Kampagne nicht die erhoffte Kundenkonversion bringt. Mit dieser Enttäuschung spielen die Sozialen Plattformen, denn natürlich verraten sie ihre Algorithmen nicht. Dadurch, dass Business-Kunden Kampagnen immer wieder ausprobieren müssen, erhalten sie mehr Geld.

Anders als bei TV-Werbung, die sich nur große Firmen leisten können, ist man auf Facebook & Co. bereits mit kleinen Summen dabei. Jede kann theoretisch plötzlich viral gehen und den Durchbruch schaffen. Es scheint als müsste man nur noch ein bisschen länger durchhalten oder eine Kampagne noch einmal anders ausrichten, bis der ersehnte Erfolg eintritt. Möglicherweise.

Social Media absorbiert

Das hat Folgen. Die Sozialen Medien stehlen unsere Zeit. Informationen, Bilder, Gerüchte, Skandale, Diskussionen und als Trends markierte Themen wie der sonntagabendliche Tatort nehmen unsere Gedankenwelt ein, egal, ob wir sie gerade nutzen oder nicht.

(Kleiner Fun fact am Rande: Die Word-Korrekturhilfe schlägt als Korrektur für Snapchat das Wort Knappschaft vor :D)

Youtuber und Filmemacher Casey Neistat beschreibt den „noise“ in seinem Kopf, den die Dauernutzung bei ihm hervorruft. In seinem Kopf rauschen Fragen, Diskussionen und Probleme, die weder sein Leben betreffen, noch Platz in seinem Alltag haben sollten.

Kaum zwei Blöcke kann Neistat mit dem Auto fahren, bis er wieder sein Handy öffnet, alle Kanäle einmal durchklickt und sich dabei weismacht, es sei fürs Business. Für kurze Zeit stellt sich ein Gefühl von Befriedigung ein, bis das Rauschen wieder losgeht.

Habe ich in den letzten 10 Minuten einen neuen Follower gewonnen? Oder jetzt oder jetzt? Das ständige Nachschauen verschwendet Zeit, in der wir etwas Sinnhaftes bewirken könnten.

Neistat hat für sich eine Lösung entdeckt:

Um dem „noise“ in seinem Kopf zu entkommen, macht er eine Social Media-Diät. Als seine Tochter zur Welt kommt, ist er für eine Woche komplett offline. Für ihn fühlt es sich an als würde eine Last von ihm fallen. Er genießt die digitale Stille und widmet seine Aufmerksamkeit stattdessen dem winzigen Wunder in seinem Arm. Das Babyschreien berührt ihn, wie kein Like es vermag. Seine Tochter ist real. Herzerwärmend. Wertvoll für sein Leben.

Warum wir dem Social Media-Sog erliegen

Neistats Selbstversuch zeigt, dass wir den Sozialen Medien zu viel Wert beimessen. So viel, dass wir ständig dem Gefühl erliegen, etwas zu verpassen. So viel, dass selbst unsere Kinder lieber YouTube-Star als Arzt werden wollen. Eine britische Studie, die von der britischen Times zitiert wird, kommt zu dem Fazit:

One in three British children age 6 to 17 told pollsters last year that they wanted to become a full-time YouTuber.

Kein Wunder. Junge Youtuberinnen wie Zoe Sugg alias Zoella (Jg. 1990) sind heutzutage die Idole der Kinder. So erfolgreich und geliebt wie sie möchten sie sein. Und natürlich werden auf YouTube auch großartige Ideen bekannt, wie die des Teenagers, der unter dem Pseudonym Mr. Beast seine YouTube-Gewinne an Bedürftige, Kellner und andere verschenkt, die sein Geld gut gebrauchen können.

Die Plattform bietet Möglichkeiten, sich kreativ auszuleben und gute Ideen zu verwirklichen. Doch die meisten Jugendlichen beginnen ihren Kanal, weil sie „geliked“ werden möchten. Und hier beginnt das Problem.

Der Wunsch nach Beliebtheit führt dazu, dass wir den Bezug zu dem verlieren, was ins Netz gehört und was privat bleiben sollte. Nackte Haut bringt mehr Follower, also postet man ein Bikinibild mehr. Mamas stellen fest, dass ihre Followerzahlen in die Höhe schnellen, wenn sie (scheinbar) authentisch sind.

Also posten sie – als Gegenbewegung zu all den Fotos mit Schönheitsfiltern – Bilder von sich mit Augenringen nach der Nacht, in der das Kind nicht durchgeschlafen hat. Und weil es noch mehr Klicks bringt, laden sie noch mehr Fotos von ihren Kindern hoch.

Auf manchen sind die Kinder breiverschmiert oder eben nackt. (Die aktuelle Kampagne "Dein Kind auch nicht" für Kinderschutz im Netz mit Wilson Gonzalez Ochsenknecht parodiert mein Erleben treffend).

Jedes Herzchen bringt mehr Dopamin. Likes und Follower geben uns das Gefühl, dass das, was wir zeigen, Bedeutung für andere hat.

Warum ist das eigentlich so?

Millenials, Opfer einer Lobkultur?

Laut des britisch-amerikanischen Autors und Sprechers Simon Sinek sind viele der sogenannten Millenials, die nach 1984 geboren wurden, Opfer einer fehlgeschlagenen Erziehungsmethode („subject to failed parenting strategies“), die auf übertriebenes Lob setzte:

„They where told to be special all the time and that they can have anything they want.“

Sobald das permanente Elternlob wegfiele und die Millenials sich auf dem Arbeitsmarkt umsähen, würden sie feststellen, dass sie gar nicht so großartig wären und, suprise, suprise, nicht alles haben können, was sie sich gerade wünschen. Vor allem nicht sofort, dabei ist die Ungeduld nach Lob groß. Die Millenials – für Sinek eine Generation, die mit wenig Selbstbewusstsein aufgewachsen ist.

„Through no fault of their own“,

fügt er im Interview der amerikanischen Talk-Show Inside Quest hinzu.

Mich stimmt die These traurig. Diese Eltern wollten nur das Beste für ihre Kinder. Wollten ihnen eine Extraportion Selbstbewusstsein mitgeben – und erreichen das Gegenteil. Ich starte eine nicht repräsentative Umfrage in meinem Bekanntenkreis und stelle fest: Die eine Hälfte erinnert sich fest, dass sie tatsächlich für Alltägliches wie Schuhe selbst anziehen jedes Mal gelobt wurde, auch, als es schon selbstverständliches Können war. Die andere Hälfte fand enttäuschte Eltern zuhause vor, wenn es nur mit einer Drei unter dem Aufsatz nach Hause kam.

Beide Hälften werden beim Gedanken daran, dass sie möglicherweise „Lob abhängig“ sind nachdenklich, vor allem, wenn sie den Bogen zu der Like-abhängigkeit auf den Sozialen Plattformen ziehen. Es scheint, als habe Sinek recht. So, wie das Studiumspublikum reagiert - zustimmend und daher gleichzeitig entsetzt, ertappt, getroffen - so reagiert das Internet. Das Video ging viral und wurde bis 2019 1,3 Millionen mal angesehen und hat fast 15.000 Likes.

Social Media ist Dopamin pur, wie Kaffee und Alkohol

Jeder Follower, jeder Like und auch schon jedes „Hi“ auf WhatsApp, das ein gelangweilter Bekannter beim Warten an der U-Bahn-Haltestelle textet, ist für sie eine Dopaminquelle. Sie gucken, wie Neistat, jede Minute oder zumindest sehr viele Male am Tag in ihre Accounts, weil sie immerzu nach sofortiger Belohnung lechzen. Die Sozialen Medien haben die Lobkultur auf die Spitze getrieben.

Dopamin wird auch durch Koffein, Alkohol und Glücksspiele freigesetzt. Sinek kommt daher zu dem Schluss:

Social media is addictive.

Anschaulich betrachtet weist jeder Anzeichen einer Sucht auf, der morgens sein Smartphone checkt, bevor er seiner Partnerin oder seinem Partner einen Guten Morgen-Kuss gibt. Das Phone weckt dich morgens? Kauf dir für 5 € einen Wecker ...! Laut einer Studie der Krankenkasse DAK und des Deutschen Zentrums für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters (DZSKJ) sind 2,6 % der befragten Teenager zwischen 12 und 17 Jahre Social Media süchtig. 85% gaben an, die Foren drei Stunden am Tag zu nutzen. Eine amerikanische Studie des Pew Research Center zeigt 2018, dass 45 % der amerikanischen Jugendlichen "almost constantly" online sind und der weltweite Durchschnitt bei 135 Minuten am Tag liegt. Seit Beginn der Pandemie stieg die Mediensucht laut Berichten der DAK und DZSK stark an.

Verantwortlich für die Tatsache, dass Social Media abhängig macht, liegt darin begründet, dass uns im digitalen Netz eine Scheinwelt vor Augen geführt wird. In dieser sieht es so aus, als hätten es alle geschafft und als wäre es sehr einfach, das auch zu schaffen.

Nur wenige werden reich

Der britische Fotograf Sean Tucker hingegen weiß, wie mühsam es ist, mit YouTube Geld zu verdienen. Mit 100.000 Followern kann er monatlich seine Supermarkteinkäufe zahlen, seinen Lebensunterhalt bestreiten jedoch nicht. Dazu erzählt er ausführlich in seinem Video "My social media philosophy".

Eine von Bloomberg News in Auftrag gegebene Studie kommt zu dem Schluss:

Breaking into the top three percent of most-viewed channels could bring in advertising revenue of about $16,800 a year […] That’s a bit more than the US federal poverty line of $12,140 for a single person.

A million miles wide and a centimeter deep

Als

A million miles wide and a centimeter deep

beschreibt Tucker die Welt im Netz, die uns die Sozialen Kanäle suggerieren und das finde ich schön gesagt. Es zeigt, dass man sich der Plattformen sehr wohl bedienen kann, aber mit einem gesunden Abstand.

So, dass man sich nicht absorbieren lässt als gäbe es im privaten wie geschäftlichen Umfeld keine anderen Kanäle, um erfolgreich zu werden, Kontakte zu knüpfen oder sich gut zu fühlen.

Wünsche für den Social-Media-Umgang meiner Kinder

Ich wünsche mir, dass meine eigenen Kinder nicht glauben, dass sie YouTube-Stars werden zu müssen, um „jemand zu sein“. Nicht nur, weil Geld und Ruhm nicht über Nacht vom Himmel fallen, sondern weil ich nicht möchte, dass sie Privates posten, um cool zu sein und es Jahre später bereuen.

Was ich meinen Kindern mitgeben möchte ist, dass man eine dicke Haut braucht, um sich neben dem Lob von Followern auch beleidigenden Kommentaren zu stellen. Jeder YouTube-Star hat neben Fans auch mit "hates" zu kämpfen. Richtig erfolgreich wird auf Social Media nur, wer das negative, nicht konstruktive Feedback verarbeiten kann. Das gelingt nur mit einem stabilen Selbstbewusstsein.

Vielleicht gibt es YouTube nicht mehr, wenn meine Kind groß sind. Vielleicht ist Social Media bis dahin sogar ganz ausgestorben. Zum Beispiel, weil die NutzerInnen enttäuschter über ausbleibende Erfolge sind, als sie sich über neue Follower und erfolgreiche Ads freuen. Oder weil sie sich nicht den Tausch Daten gegen kostenfreie Nutzung nicht länger akzeptieren. Oder weil sie durch die heutige Eltern-Generation ganz andere Probleme haben 😉

Bis dahin gibt es durchaus gewinnbringende Möglichkeiten, die Plattformen für sich zu nutzen:

  1. Socializing mit Freunden und Kontakthalten mit alten Bekannten

  2. Inspirationen finden

  3. Seine Arbeit als Künstler:in oder Unternehmer:in zu präsentieren

  4. Um mit Kundinnen und Kunden in Kontakt zu treten

Unsere Erfahrung als Gründer eines Start-ups ist, dass Social Media vielen unserer Kundinnen und Kunden mehr Spaß macht als Telefon und E-Mails. Daher geben sie auf diesen Wegen häufiger Feedback und tauschen sich gerne aus. Das ist sehr wertvoll für uns und dafür schätzen wir vor allem Twitter und Facebook.

Instagram haben wir erstmal fallengelassen, denn wer Kindern Sternchen in die Augen malt, möchte kein privates Familientagebuch. Diese Eltern wollen nicht fernab von der Öffentlichkeit ihr Familienleben mit den Großeltern teilen. Sie sind auf Instagram, weil sie auf Likes hoffen. Weil sie Likes brauchen. Für ihr Selbstbewusstsein.

Wir bieten ein geschütztes, professionell und zugleich liebevoll gestaltetes Online-Tagebuch für die magischen, Glück erfüllten und manchmal sorgenvollen Momente im Leben. Eltern können Texte und Bilder einstellen und behalten dabei, anders als auf den bekannten Social Media Plattformen, immer die Rechte daran. Sie haben die Möglichkeit, automatisiert ein hochwertiges Fotobuch aus ihren Fotos und Texten zu drucken, um dieses wunderbare Erinnerungs-Album eines Tages ihrem Kind zu überreichen.

Aber Likes von der Weltöffentlichkeit, die bieten wir nicht.

Fazit

Wer Social Media bewusst nutzt, fährt am besten

Die Nutzung von Social Media kann bereichernd sein. Für den Austausch mit Freunden und zur Vernetzung. Zum Kundendialog und für Werbekampagnen (wen ma weiß, wie diese erfolgreich funktionieren). Für Inspirationen, Meinungsbildung (aller Filterblasen zum Trotz) und Informationsbeschaffung.

Manche NutzerInnen wie Mamabloggerin und Fotografien Miriam Boettcher geben an, nie besser informiert gewesen zu sein als durch die personalisierte Interessensbündelung auf Facebook. Das kann ein bestärkendes Gefühl sein. Auch zur Darstellung des privaten Familienlebens lassen sich die Sozialen Kanäle bespielen, wenn man als Familie überzeugt dahintersteht.

Viele nutzen die Plattformen jedoch nicht auf diese Weise. Stattdessen lassen sie sich einnehmen von dem, worauf die Sozialen Kanäle ihre Aufmerksamkeit lenken und ärgern sich in der Folge, wie viel Zeit sie dafür aufbringen. Sie posten, um in der Welt der Herzchen, Gefällt mir-Angaben und Follower dabei zu sein und verlieren das Gefühl dafür, wie viel Öffentlichkeit sich für sie noch gut anfühlt. Oder sich für ihre Kinder anfühlen könnte, wenn sie ihre Meinung schon äußern könnten.

Die Sterne in den Augen ihrer Kinder sind das beste Beispiel für das Gefühl der Zerrissenheit, einerseits privat bleiben zu wollen und andererseits dem nächsten Dopaminschub hinterherzujagen. Für dieses Bedürfnis kann niemand etwas, wie Sinek sagt. Aber darüber nachdenken hilft.

Vielleicht. Hoffentlich 😉

Zu welcher Eltern-Gruppe möchtest du gehören?