Wie Kinder erinnern

Was weiß die Forschung darüber, wie Kinder sich erinnern? Welche Momente bleiben? Ein Blick auf den Forschungsstand. Mit einem Interview mit Erinnerungsforscher Prof. Gerald Hüther.

Imme

CEO von YAY

Intro

It's all about memories ...

Die Kerze brennt am Geburtstagszug. Kuchenduft und Aufregung hängen in der Luft. Ein Jahr wird unser Kind heute alt! Als wir gerade in Erinnerungen an die vergangenen zwölf Monate schwelgen, wagt unser Sohn vor versammelter Mannschaft seine ersten freihändigen Schritte. Wir machen Fotos und klatschen, unser Kleiner quietscht vor Freude.

Die ersten Jahre mit Kind sind etwas ganz Besonderes. Doch was weiß unser Kind später davon noch?

Wie unser Gedächtnis selektiert

An Momente im Kindesalter, die mit besonders intensiven Emotionen verbunden sind, erinnern wir uns später mit größerer Wahrscheinlichkeit, als an banale Momente. Situationen, die vom Alltag abweichen, bergen daher schon bei Kleinstkindern ein hohes Potential, einen neuronalen Abdruck im Gedächtnis des Kindes zu hinterlassen. Dieser Abdruck ist kein klares, abrufbares Bild, wie es bei einer Erinnerung im Erwachsenenalter der Fall wäre, sondern ein unbestimmtes Gefühl.

Erinnerungen werden umso stärker gefestigt, je weit verzweigter die neuronalen Verknüpfungen sind, die beim Erleben des jeweiligen Augenblicks gebildet werden. Diese synaptischen Verbindungen werden zum Beispiel durch das Ausschütten von Glückshormonen begünstigt.

Bei einer Konferenz hatte ich die Gelegenheit, den Hirnforscher Dr. Gerald Hüther kennenzulernen, der sich intensiv mit Erinnerungs- und Lernprozessen in der kindlichen Entwicklung beschäftigt hat. Er sagte, bei vielen jungen Menschen würden neue neuronale Verknüpfungen im Gehirn entstehen, wenn sie ihr Handy benutzten, weil es sie begeistern würde. Bei ihm hingegen würde man dabei keine neuen Verbindungen feststellen können, dafür bei vielen anderen Dingen, an denen er sich erfreut. Bei Kleinkindern mag dies der Besuch bei den Großeltern oder im Schwimmbad sein.

Laut des Forschers Douwe Draaisma aus den Niederland, so die ZEIT in einem Artikel über Erinnerungen, werden vor allem „Pioniererfahrungen“ abgespeichert, von denen rund 70% im ersten Lebensdrittel liegen. Deswegen kommt uns diese Zeit rückblickend so lange vor: Sie scheint voll von Erlebnissen zu sein. Im letzten Lebensdrittel kommt nicht mehr viel Neues hinzu, das uns derart beeindruckt, dass es einen Gedächtnisabdruck hinterlässt.

Die Verknüpfungen, die im Gehirn stattfinden müssen, damit eine Erinnerung angespeichert wird, gelingt umso besser, je mehr Sinne zum Einsatz kommen. Am besten werden Situationen verankert, die wir zusätzlich zum Hör-, Seh- oder Tastsinn mit unserem Geschmacks- oder Geruchssinn erfassen.

Was sind eigentlich Erinnerungen?

In Meyers Lexikon heißt es: Erinnerung ist das mentale Wiedererleben früherer Erlebnisse und Erfahrungen. Anregender finde ich die Definition im Duden: Der Besitz aller bisher aufgenommenen Eindrücke. Besitz ist in dem Zusammenhang ein großartig gewähltes Wort, denn unsere Erinnerungen gehören uns, für immer. Niemand kann sie uns nehmen.

Die ZEIT definiert: „Die psychische Mechanik des Erinnerns ist derart komplex, dass darin so gut wie alles spezifisch Menschliche involviert und aneinandergekoppelt ist: Emotion, Bewusstsein, Geist, Verstand, Poesie. Erinnerung ist nicht einfach gleichzusetzen mit Gedächtnis, obwohl Erinnerung und Gedächtnis sich nicht trennen lassen. Erinnern ist vielmehr das Plündern des Gedächtnisses als Tätigkeit des Geistes mithilfe des Gehirns.“

Erinnerungen können spontan entstehen oder bewusst herbeigeführt werden, sind verdrängbar und wieder aufrufbar. Sie können verwirren, trügen, trösten. Sie sind ein Teil von uns.

Warum ist es uns so wichtig, uns an früher zu erinnern?

Wann habe ich angefangen zu laufen? Habe ich lieber Gänseblümchen gepflückt oder jeden Berg erklommen? Seit ich Mama geworden bin, habe ich viele Fragen, die mir niemand mehr beantworten kann.

Sind diese Antworten wichtig?

Erinnerungen sind aber auch deswegen so bedeutsam, weil sie ein Teil unserer Persönlichkeit sind.

Ohne Erinnerung ist eine persönliche Identität nicht möglich,

schreibt Christian Schüledes in der ZEIT.

Sie sind auch deswegen Teil der Identität, weil jeder Mensch Erinnerungen anders filtert. Selbst Personen, denen du sehr nahe stehst, erinnern vergangene Ereignisse unterschiedlich als du selbst, weil sie sie anders erlebt haben. War deine Schwester am Tag einer Geburtstagsfeier der Oma besser oder schlechter gestimmt, hat sie sich mehr oder weniger darauf gefreut als du? Ist sie eher ein visueller und du ein auditiver Mensch? Die Anzahl an einwirkenden Faktoren ist riesig.

Erinnerungen sind wie Filme, die sich neu schneiden lassen

Erinnerungen sind nicht wie Fotos. Mein Vater hat schon immer gerne fotografiert und von mir gibt es massig Fotos, die meine Mutter mit Notizen versehen in eines dieser dicken Alben geklebt hat, in dem Fotos durch Pergamentpapier vor dem Verkleben geschützt werden. Ein tolles Album.

Doch wenn ich darin blättere, weiß ich manchmal nicht, ob ich mich an bestimmte Situationen erinnere oder Bilder in mir lebendig werden, weil ich mir die Fotos so oft angesehen und meine Eltern mir dazu etwas erzählt haben. Hirnforscher Prof. Hans-Joachim Markowitsch der Universität Bielefeld schreibt in „Warum Menschen erinnern“, dass sich unser Unterbewusstsein etwas zusammenreimt, wenn es Situationen abspeichert.

Zu den eben erwähnten Faktoren wie Gemütszustand und Sinneswahrnehmung kommt also noch hinzu, dass jeder eine Situation ein wenig anders erlebt, weil Erinnerungen aus Erlebtem und Erzähltem bestehen.

Dieser Aspekt spielt bei der Arbeit mit dem Unterbewussten eine Rolle, wie er in der Traumaarbeit oder im NLP-Coaching verwendet wird. Immer wieder fragen Coachees, ob diese oder jene Situation, die plötzlich als Bild in ihnen auftauchen, wirklich geschehen ist - manche davon reichen zurück bis zur Geburt.

Du wirst es nicht mehr herausfinden,

lautet die Antwort auf diese Frage. Erzähltes und selbst Erinnertes lässt sich nicht mehr trennen. Das Gute daran ist, dass negative Erinnerungen überschrieben werden können. Sie können mit einer neuen Bedeutung versehen werden.

Warum vergessen wir die ersten drei Lebensjahre?

Säuglinge erinnern sich reflexhaft ans Saugen, aber erst mit etwa drei Jahren, wenn ausreichend Nervenzellen in ihrem Gehirn herangewachsen sind, können komplexe Vorgänge fern von Überlebens-Automatismen abgespeichert werden. Warum setzt das sogenannte autobiografische Gedächtnis erst so spät?

Die Psychologie spricht von Kindheitsamnesie. Damit ist gemeint, dass das menschliche Gehirn einen gewissen Reifegrad erreicht haben muss, um die Fähigkeit des Erinnerns umsetzen zu können.

In Alter von drei Jahren entwickeln Kinder eine Vorstellung von Zeit und damit von Vergangenheit. Diese Fähigkeit läuft mit dem Vorstellungsvermögen einher, dass sie ein eigenständiges Wesen sind, das sich als Teil dieser Welt begreifen lernt und versteht, dass es selbst wahrnimmt.

Es ist das Alter, in dem Kinder Erfahrungen bewusst abspeichern können.

Die Sprache kommt, die Erinnerungen gehen

Wenn die Sprachentwicklung einsetzt, werden die unbewussten Erinnerungen verdrängt. Was sich Kinder in Gefühlen und Bildern bis zu ihrem etwa sechsten Lebensjahr merken, geht verloren.

Eine meiner eigenen frühesten Erinnerungen ist der Moment, als mir bewusst wurde, dass ich lesen konnte. Ich saß im Klassenraum, starrte an die Tafel und spürte mein Herz gegen die Rippen schlagen, als ich verstand, dass sich mir eine neue Welt erschloss.

Aber in dieser Zeit habe ich wohl viele andere Erlebnisse vergessen. Irgendwie traurig, aber dank der Sprache sind die Erinnerungen ab dem siebten Lebensjahr gefestigt und ausdrückbar.

Außerdem kann das autobiografische Gedächtnis gestärkt werden, in dem man schon mit kleinen Kindern detailliert über Vergangenes spricht, auch bevor es zu sprechen lernt. Durch diese Reflexion werden Strukturen im Gehirn gebildet, die wichtig für das Erinnerungsvermögen sind.

Welche Erinnerungen möchtest du deinen Kindern mitgeben?

Ein Aufwachsen in einem liebevollen Miteinander ermöglicht es unserem Kind, sich eine Kindheit voll Magie zu verwahren. Egal, wie verblasst die inneren Bilder schon sind, das Gefühl, mit dem wir an die Zeit zurückdenken, zählt.

Persönlich kreieren wir schöne Momente mit unseren Kindern zum Beispiel abends bei der Kuschel-Vorlesestunde im Bett. Selbst, wenn sie die Kinder sich später nicht im Detail daran erinnern werden (oder vielleicht doch?), so werden sie das Vorlesen zukünftig immer mit einem positiven Gefühl verbinden. ​ ​ Sie werden auch immer nachlesen können, was wir gemeinsam erlebt haben, denn wir dokumentieren unsere Glücksmomente in unserem YAY Online-Tagebuch, das wir zunächst für unser Familienleben mit unserem ersten Sohn entwickelt haben.

3 Fragen zum Thema "frühe Erinnerungen" mit Neurobiologe Prof. Gerald Hüther

Prof. Hüther hat eine Vielzahl an Büchern zum Thema frühkindliches Erinnerungsvermögen veröffentlicht und setzt sich heute für kindgerechtes Lernen ein. Ich habe ihm drei Fragen gestellt, die mir im Nachgang meiner Recherche unter den Nägeln brannten:

  • Lieber Herr Prof. Hüther, halten Sie Erinnerungen für etwas Wertvolles?

  • Was wäre der Mensch ohne seine Erinnerungen?

  • Kann man das Erinnerungsvermögen von Kleinkindern unterstützen?

Hier liest du das Interview und findest ergänzend eine Literaturliste zum Weiterlesen